Ebnet dem Herrn die Straßen
Es ist Montagmorgen. Ernst hat sich schon früh auf den Weg zur Baustelle gemacht. Seit ein paar Wochen pflastert er allein den neuen Zugang zur Kirche, nachdem andere zuvor die Gasleitungen erneuert haben. Allein ist er deshalb, weil seine Kollegen mit der Grippe zu kämpfen haben. Eine Weile hat er überlegt, ob er sich nicht auch ins Bett legen soll, wenn die Kolonne nicht komplett antreten kann. Aber das erboste Gesicht seines Chefs vor Augen hat er es sich schnell anders überlegt.
Ernst kniet mitten in seiner eigenen Straße aus Pflastersteinen. Hier wird nichts geteert. Jeder Stein wird einzeln in den Sand gelegt und festgeklopft. Ernst hat einen eigenen Klopfrhythmus dafür entwickelt. Einmal kurz zweimal lang, bis der Stein ganz fest im Sand sitzt. Und wieder einmal kurz, zweimal lang.
Ein Schulkind kommt mit seiner Mutter über den Platz. Von der anderen Seite nähert sich eine zweite Frau. Die Frauen treffen aufeinander, bleiben stehen und unterhalten sich. Der Kleinen wird das schnell langweilig. Sie gesellt sich zu dem Handwerker und sieht ihm bei der Arbeit zu.
„Was machst du da?“, fragt das Mädchen und hebt fragend die Augenbrauen, während Ernst mit dem Hammer klopft. Einmal kurz, zweimal lang.
„Ich verlege einen neuen Gehweg!“
„Und bis hier bist du schon gekommen?“
„Na ja, mein Chef meint, bis hier sei ich erst gekommen. Das ganze Stück sollte längst fertig sein.“
„Aber du bist ganz alleine, da geht das nicht so schnell. Das kannst du doch deinem Chef sagen?“ Ernst lächelt die Kleine an. Die hatte noch keine Idee, dass Chefs von ihren Angestellten oft genug Unmögliches verlangten.
„Na ja, meine Kollegen sind krank und liegen im Bett. Da muss ich eben allein weiterarbeiten.“ Ernst nimmt den nächsten Stein, richtet ihn aus und klopft wieder. Einmal kurz, zweimal lang.“ Er hat nicht viel Zeit, hier zu plaudern, sonst wird er den Weg bis zum Sankt Nimmerleinstag nicht fertig haben.
„Ebnest du dem Herrn die Straße?“ Jetzt sieht er doch von der Arbeit auf und blickt die Kleine verwundert an. Das war eine seltsame Wortwahl für ein Grundschulkind. Sie wiederholt:
„Bereitest du dem Herrn den Weg?“
„Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst, Kleine. Wo hast du nur solche Sätze her?
„Gestern aus der frohen Botschaft. Ich war mit Mama in der Kirche und der Pastor hat daraus vorgelesen. Da musste ich gleich an deinen Weg hier denken. Bald ist doch Weihnachten und dann muss das Christkind kommen. Wie soll das gehen, wenn alles nur voller Schotter ist? Mama und ich machen auch seit Wochen einen Bogen um den Weg.“
Ernst staunt noch immer, auch wenn er das Mädchen ein wenig altklug findet.
„Ich gehe nicht zur Kirche!“, gesteht er trotzdem. Irgendwie fordert sie die Antwort heraus und er findet auch, dass sie eine Reaktion verdient hat, nimmt den nächsten Stein und fährt mit der Arbeit fort. Ausrichten. Einmal kurz, zweimal lang. Den nächsten Stein.
„Ich hab dich da auch noch nie gesehen. Ich gehe fast immer mit. Vor allem im Advent, da gibt es schöne Lieder. Die singe ich gerne.“
„Ich kann nicht singen. Ich bin unmusikalisch.“
„Jetzt schwindelst du aber…“ Die Kleine schüttelt vorwurfsvoll den Kopf.
„Na, hör mal. Wie kommst du denn darauf?“
„Na, du klopfst doch hier den Takt von meinem Lieblingslied. Einmal kurz und zweimal lang. Bei jedem Stein, den du für den Herrn auf den Weg legst.“
„Ach ja? Das ist aber keine Absicht. Wie heißt dein Lieblingslied überhaupt?“ Das Mädchen beginnt zu singen:
„Macht hoch die Tür, die Tor‘ macht weit. Es kommt der Herr der Herrlichkeit.“
„Und das klopfe ich?“, unterbricht Ernst den Gesang der Kinderstimme ungläubig.
„Ja klar, fang doch nochmal an.“ Ein paar Schläge muss er sich gedulden, dann beginnt das Kind, in seinem Schlagrhythmus zu singen. Und das funktionierte tatsächlich. Er wartet die ganze Strophe ab und sagt dann:
„Das hast du toll gemacht. Nur leider ist mir jetzt ein Stein zu tief geraten. Den muss ich wieder ausbuddeln, sonst stolpern die Leute später darüber.“
„Nein, das wollen wir ja wirklich nicht. Ich muss jetzt auch zur Schule. Die Mama winkt schon rüber. Mach es gut und klopf schön weiter das Lied, damit der Weg für den Herrn eben wird, ok?“ Dann dreht sie sich um und hüpft fröhlich davon.
An diesem Morgen werden sich noch viele gewundert haben über den Pflasterer, der am Boden kniet, auf die Steine schlägt und dabei mit ungeübter Stimme Macht hoch die Tür vor sich hin summt. Aber das stört Ernst nicht. Zumindest merkt er es nicht, denn er grübelt so vor sich hin. Der Weg muss unbedingt bis Weihnachten fertig sein und schön gerade soll er auch werden. Das ist er dem Mädchen schuldig. Und dem Christkind natürlich auch irgendwie. Einmal kurz. Zweimal lang.
Bärbel Schraut (Samstag, 04 Dezember 2021 14:56)
Liebe Anja,
eine originelle und schöne Adventsgeschichte. Mir hat sie sehr gefallen.